Das schwache elektrische Licht flackert im Nebel, auf den großen, dunklen Pflastersteinen am Boden steht das Wasser. An der Decke der weiß getünchten Gänge fangen erste Tropfsteine an zu wachsen. Die Luft riecht modrig. In den schier endlosen Katakomben unter dem Měšťanský Pivovar, dem Bürgerlichen Brauhaus von Pilsen, ist es ganzjährig feucht – und auch im Sommer kalt. Hier fand der niederbayerische Braumeister Josef Groll 1842, Jahrzehnte vor Erfindung der Kühlmaschine, die idealen Bedingungen, um ein hochwertiges, untergäriges Bier zu entwickeln. Vom böhmischen Pilsen aus eroberte dieser neue Bierstil, das Pilsener, die Welt.
In der historischen Brauerei im Untergrund wird bis heute mit den Methoden und dem Rezept von Groll gebraut, der unterirdische Weg führt vorbei an einer kirchenschiffhohen Halle, die in früheren Zeiten als Eislager diente, und an mannshohen, offenen Holzfässern, in denen Bier vergärt und die Gänge mit einem schweren Hefegeruch füllt. Weiter geht es hindurch zwischen liegenden, dunklen Fässern: Hier wird das auf historische Art gebraute Pilsner Urquell gelagert, am letzten Fass schenkt ein alter, schweigsamer Mann jedem Besucher ein Glas des eiskalten, unfiltrierten Gerstensaftes ein.
Entwicklung zur hochmodernen Brauerei
Die Romantik aus den Anfangstagen der Brauerei sorgt bei der Brauereiführung bis heute für ein wohliges Gefühl traditioneller Braukunst, ist aber natürlich längst nicht mehr die Realität. Mit dem größten Personenaufzug Tschechiens, Platz finden 72 Personen, „oder 38 Bierbrauer“, wie die Brauereiführerin witzelt, geht es nach oben in die hochmoderne Brauerei. Seit 2016 gehört Pilsner Urquell zum japanischen Braukonzern Asahi Beer, riesige Mengen Pilsner Bier werden in einer sterilen Halle mit viel Kupfer und Edelstahl gebraut. Die Wege auf dem Brauereigelände sind weit, darum geht es in einem kleinen, grünen Bus weiter zur Abfüllung. Vollautomatisch werden hier auf fast 35.000 Quadratmetern 120.000 Flaschen und 100.000 Dosen mit Bier befüllt – pro Stunde wohlgemerkt. Kein Mitarbeiter ist zu sehen, das elektrische Geräusch der Maschinen und das Klimpern der Glasflaschen füllen die Halle aus Metall und Glas. Die Kombination aus modernen Industriegebäuden und historischen Bauten wie dem Wasserturm von 1907 oder dem reichlicher verzierten Brauereitor von 1892 zeigen deutlich den Weg vom Ursprung des Pilsner Bieres hin zur Braufabrik.
Wie Pilsner Urquell richtig eingeschenkt wird
Um noch weiter in die Welt des Pilsner Urquell einzutauchen, bietet sich die rund einstündige Fahrt nach Prag an. Im Stadtzentrum hat im Sommer 2023 das Pilsner Urquell Experience eröffnet, wo die Geschichte der Bier-Ikone interaktiv und sehr unterhaltsam präsentiert wird. Die Tour endet in einer eigens eingerichteten, modernen Bierkneipe bei einem frisch gezapften Pils. Dort besteht sogar die Möglichkeit, an der Tapster Academy einen Zapfkurs zu belegen, um zu lernen, wie die drei verschiedenen Zapfstile eines Pilsner Urquells – Hladinka, Mlíko und Šnyt – korrekt eingeschenkt werden.
Historische Reißbrettstadt mit hoher Aufenthaltsqualität
Zurück in Pilsen startet der Spaziergang durch die 170.000 Einwohner-Stadt am Platz der Republik, der mit über 26.000 Quadratmetern einer der größten Plätze Europas ist. In seiner Mitte steht die Kathedrale St. Bartholomäus, um ihn herum beginnen die schnurgeraden Straßen im Schachbrettmuster. Pilsen wurde im 13. Jahrhundert am Reißbrett geplant, was heute die Orientierung in der viertgrößten Stadt Tschechiens sehr einfach macht. Am Platz der Republik reihen sich sehenswert gotische Häuser mit engen Stirnseiten an Barockpalais, historische Prunkdomizile und an das wuchtige, dunkle Rathaus aus der Renaissance. Zwei mit großen Kopfsteinen gepflasterte Straßen weiter fällt die Große Synagoge mit ihren beiden roten Turmkuppeln ins Auge. Vor dem gegenüberliegenden JK Tyla Theater erinnert eine Büste an den tschechischen Komponisten Bedřich Smetana. Er soll vom Klang (und Genuss?) des lokalen Bieres zu seiner Oper „Die verkaufte Braut“ inspiriert worden sein, in der der Chor „Welch Gottesgabe ist das Bier, das gute Bier!“, jubiliert. Hinter Smetana beginnt der grüne Gürtel um die Altstadt: Wo früher die Stadtmauer stand, kann heute durch zahlreiche aneinandergereihte Parks flaniert werden. Viele schattenspendende Bäume, schön bepflanzte Beete, zahlreiche Brunnen und Bänkchen laden zum Verweilen ein.
An der nordöstlichen Ecke der Altstadt, gleich neben dem Marriott-Hotel, ist in einem dreistöckigen Haus aus dem 15. Jahrhundert das Brauereimuseum untergebracht, das den Wandel von der mittelalterlichen Gasthausbrauerei zum industriellen Brauwesen dokumentiert. Dort können die ursprüngliche Brauerei und sogar eine spätgotische Mälzerei bestaunt werden. Eine Bierstube aus dem frühen 20. Jahrhundert lässt das Biertrinken in vergangenen Zeiten aufleben. Eine Kuriosität im Museum ist der kleinste Bierkrug der Welt.
Die Pilsner Unterwelt
Direkt nebenan führt eine enge Treppe hinab in Pilsens historische Keller, ein unterirdisches Labyrinth mit insgesamt 20 Kilometern Länge, dass die Häuser auf mehreren Ebenen miteinander verbindet und die Menschen einst aus über eintausend Brunnen mit Wasser versorgte. Zudem dienten die Keller als Kühlschränke für Lebensmittelvorräte, Waren- und Bierlager sowie als Werkstätten. Was im kriegerischen Mittelalter ein großer Vorteil war, ist heute ein schwieriges Erbe: Der Sandsteinboden unter Pilsens Zentrum ist derart durchlöchert, dass Einsturzgefahr besteht. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde das Kellersystem deshalb saniert und stabilisiert, ein gut 800 Meter langes Teilstück für Besucher zugänglich gemacht. An ihrem tiefsten Punkt bietet die Führung durch die schmalen, niedrigen Gänge die seltene Möglichkeit, das Innenleben eines spätmittelalterlichen Wasserturms mit hölzernem Wasserrad zu bestaunen.
Das unterirdische System spielt auch in der Biergeschichte Pilsens eine wichtige, aber wenig glanzvolle Rolle. Die fast 300 Braustätten der Stadt hatten mit ihren Kellern einen Luxus, der sie schlampig werden ließ. Im Vertrauen darauf, dass die niedrigen Temperaturen in der Tiefe das Bier haltbar machen würden, vernachlässigten sie beim Brauen die Qualität. Wurde ein Fass Bier dann wirklich schlecht, konnte es unterirdisch an eine andere Gaststätte verschoben und dort den ahnungslosen Gästen eingeschenkt werden. So wurde das schlechte Bier aus Pilsen legendär. 1938 setzten die bierdurstigen Bürger dem ungenießbaren Trunk aber ein Ende: Sie stürmten die Wirtshäuser und Lagerkeller, trugen die Fässer nach oben und verschütteten die Plörre auf den Straßen. Die braubrechtigten Bürger entschieden sich zum Bau einer neuen, gemeinsamen Brauerei, um die technischen Voraussetzungen für die Herstellung von modernem, untergärigem Bier zu schaffen. Der Grundstein für das Bürgerliche Brauhaus, das heutige Pilsner Urquell, war gelegt.
Böhmische Küche und oderne Biere
Nach der Tour durch die historischen Keller bietet sich nur eine Straßenecke weiter eine Stärkung an. Das U Salzmannů bewirtet an dieser Stelle seit 1637 Gäste und ist damit das älteste Lokal der Stadt. Im mit dunklem Holz eingerichteten Restaurant werden herzhafte und üppige böhmische Spezialitäten wie Rindergulasch, Lendenbraten mit Preiselbeeren, Knödel, Kraut und Tatar serviert. Dazu gibt es frisch gezapfte lokale Biere. Weniger rustikal geht es direkt am Platz der Republik zu: Auf dem Weg in einen Hinterhof befindet sich hinter einer Glastür das Lékárna. Die Küche im modernen, schlicht eingerichteten Restaurant ist von böhmischen, österreichischen sowie französischen Einflüssen geprägt und versteht es, das lokale Lieblingsgetränk auch in die Speisen einzubinden. Besonders zu empfehlen sind der gebackene, sehr streng riechende Bierkäse und als süßer Abschluss das Biereis mit karamellisiertem Malz und Lebkuchenbröseln.
Zum Ausklang des Abends und um den Pfad des traditionellen böhmischen Bieres kurzzeitig zu verlassen, lohnt sich der Besuch einer modernen Bier-Bar in der Altstadt. In der kleinen Craft-Beer-Bar KEGzistence kann man auf zwei Ebenen an hohen Tischen aus hellem Holz kreative lokale und internationale Biere probieren. Nur wenige Minuten entfernt, an einer belebten Einkehrstraße, lockt das deutlich größere Zlatá kráva, dessen Einrichtung an den Wilden Westen erinnert. Vom Fass gibt es acht Sorten hausgebrautes Bier. Das trübe, gelbe Yellow Cow verströmt einen tropischen Hopfenduft und ist ein süffiges, erfrischendes Bier, das bei allen Temperaturen auch auf den Sitzplätze draußen getrunken werden kann. Dazu passt hervorragend das hausgemachte Rindertartar.
Erstmalig erschienen in der Schwäbischen Zeitung am 15.12.2023
Die Recherchereise wurde unterstütz von Plzen-Turismus und CzechTourism Deutschland
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